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Geschichte

10. Februar 2025

Tikhon

Die Gründung des Erzbistums: Ein Akt des Glaubens in stürmischen Zeiten

Am 8. April 1921 (26. März nach julianischem Kalender) erließ Patriarch Tichon von Moskau, der 1989 heiliggesprochen wurde, zwei Dekrete (Nr. 423 und 424). Diese übertrugen Erzbischof Evlogij, der sich als Flüchtling im Ausland befand, die Leitung aller russischen Gemeinden in Westeuropa. Diese Entscheidung bestätigte eine frühere Regelung der *Provisorischen Kirchlichen Oberverwaltung Südrusslands* aus dem Oktober 1920 – einer Struktur, die in nicht von der Roten Armee besetzten Gebieten die kirchliche Autorität aufrechterhielt. Unterstützung erhielt Evlogij auch durch einen Brief des späteren Märtyrers Metropolit Benjamin von Petrograd, der ihm die Jurisdiktion über die westeuropäischen Gemeinden übertrug.

So entstand das Erzbistum, das nicht nur Zehntausende russischer Flüchtlinge vereinte, sondern auch eine kulturelle und spirituelle Brücke zwischen Ost und West schlug. Es wurde zum Zentrum einer orthodoxen Diaspora, die weit über ihre Grenzen hinausstrahlte – durch Theologie, Kunst und Dialogbereitschaft.

Der Russische Bürgerkrieg: Exodus und die Geburt einer Diaspora

Zwischen 1917 und 1922 flohen etwa drei Millionen Menschen vor dem Sowjetregime. Die „erste Emigration“ umfasste Adlige, Bauern, Kosaken, Intellektuelle und Geistliche – alle, die als Gegner des Bolschewismus galten. Die Kirche wurde systematisch verfolgt: Priester, Mönche und Gläubige wurden hingerichtet oder in Lager deportiert.

In dieser Zeit des Schreckens retteten sich 34 Bischöfe und Dutzende Priester ins Ausland, darunter Erzbischof Evlogij, der 1920 auf einer Mission in Serbien festsaß. Sie wurden zu geistlichen Leitfiguren für die verstreuten Flüchtlingsgemeinden. Diese „erste Welle“ wurde durch zwei weitere Emigrationsphasen ergänzt:

  • Zweite Emigration (1940er-Jahre): Über 500.000 „Displaced Persons“ flohen vor Stalins Regime oder der Roten Armee.
  • Dritte Emigration (ab 1974): Tausende Sowjetbürger verließen die UdSSR – viele fanden in Paris und Westeuropa eine neue Heimat.

Von der Krim nach Paris: Aufbau einer Kirche im Exil

1920 ernannte die *Provisorische Kirchliche Oberverwaltung Südrusslands* in Simferopol Evlogij zum Verwalter der westeuropäischen Gemeinden. Nach der Evakuierung der Weißen Armee aus der Krim 1920 organisierten Bischöfe auf einem Schiff in Konstantinopel die *Russische Kirchliche Oberverwaltung im Ausland*. Patriarch Tichon bestätigte 1921 Evlogijs Rolle und verankerte das Erzbistum kanonisch.

1922 verlegte Evlogij den Bischofssitz nach Paris. Die Kathedrale Saint-Alexandre-Nevski in der Rue Daru wurde zum spirituellen Zentrum. Das Erzbistum bewahrte die Reformen des Moskauer Konzils von 1917–1918, darunter eine sozial engagierte Pastoral und Offenheit für die westliche Gesellschaft.

Konflikte und Versöhnung: Der schmerzhafte Bruch mit anderen Jurisdiktionen

1921 spaltete sich die russische Exilkirche: Beim Konzil von Sremski Karlovci forderten monarchistische Bischöfe einen Kreuzzug gegen die Sowjets. Evlogij lehnte dies ab – er sah darin eine Gefahr für die in Russland verbliebenen Gläubigen. 1922 entzog Patriarch Tichon der radikalen Fraktion die Anerkennung, doch die Spaltung vertiefte sich.

1930 exkommunizierte die Moskauer Patriarchatsverwaltung unter Druck der Sowjets Evlogij, weil er für verfolgte Christen beten ließ. Daraufhin stellte sich das Erzbistum 1931 unter den Schutz des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel. Trotz administrativer Trennungen blieben persönliche und geistliche Verbindungen zu anderen russischen Jurisdiktionen bestehen – etwa durch gemeinsame Jugendprojekte oder ökumenische Initiativen.

Erst 2019 kehrte das Erzbistum nach jahrzehntelanger Autonomie zum Moskauer Patriarchat zurück – ein Schritt, der die historische Versöhnung nach der Wiedervereinigung mit der „Auslandskirche“ (ROCOR) 2009 besiegelte.

Das Erzbistum heute: Erbe und Auftrag in einer globalisierten Welt

Im 21. Jahrhundert steht das Erzbistum vor neuen Herausforderungen: Globalisierung, Migration aus slawischen Ländern und Konvertiten aus aller Welt prägen seine Gemeinden. Die Liturgie wird mehrsprachig gefeiert, die Theologische Hochschule Saint-Serge in Paris bleibt ein intellektuelles Zentrum.

Trotz politischer Spannungen hält das Erzbistum an seiner Mission fest: als Brücke zwischen Kulturen zu dienen, den interorthodoxen Dialog zu stärken und soziale Verantwortung zu leben. Es pflegt weiterhin ökumenische Partnerschaften und setzt das Vermächtnis Evlogijs fort: „Die Freiheit des Geistes in der Kirche ist heilig.“

Ein lebendiges Erbe: Von Ikonenmalern bis zur Ökumene

Das Erzbistum prägte Persönlichkeiten wie den Theologen Paul Evdokimov oder die Sängerin Anna Netrebko. Seine Kirchen, Klöster und Kulturprojekte – darunter Chöre, Kunstwerkstätten und Sozialinitiativen – sind Zeugnisse einer lebendigen orthodoxen Identität in Westeuropa. Hier verbindet sich russische Spiritualität mit europäischer Offenheit – ein Erbe, das weiterstrahlt.